DAS KONZEPT DER „ANTIESCUELA“


Ein Erfahrungsbericht von Katja Stehle und Marc Dietrich - Oktober bis Dezember 2004


Ausgangslage – „¡ Bue – nos – di – as – pro – fe – so – ra!“ so begruessen tagtaeglich die Schueler der Educativa Sorata in Huancarani ihre Lehrerin. Schreiend im Chor versteht sich, stehend. Und dies, nachdem zuerst mit den anderen Klassen auf dem Pausenplatz zur Hymne marschiert wurde. Die Lehrer mit Stoecken in den Haenden, welche die Schueler wohl disziplinieren sollen.

Unser Schulbesuch in den ersten Wochen in Huancarani sollte uns einen Blick in die hiesigen Schulen ermoeglichen, um daraus die Antiescuela abzuleiten. Was wir sahen, beeindruckte uns schwer, nicht unbedingt positiv und wir verstanden danach gewisse Verhaltensweisen der Kinder eher und besser.

Wir beobachteten, dass in der Schule Individualismus der Kinder keinen Platz hat, wir sahen, dass Auswendiglernen wichtiger als Verstehen ist, uns fielen Kindergruppen auf, die die Lehrerin schon lange „abgeschrieben“ hatte und die deshalb die Schulmoergen in einer Ecke des Zimmers, mit Lolli und Schnur spielend, verbrachten.

Platz fuer Phantasie gab es kaum, obwohl wir in einigen Schulzimmer einen fett angeschriebenen „rincón de creadividad“ entdeckten. Ueberall war dieser aber leer. Wie sollte sich dieser auch fuellen, wenn den Kindern dafuer keine Moeglichkeit zustand?


Idee – Die Idee der Antiescuela ist eigentlich simpel: Sie steht offen fuer Kinder jeden Alters, jeweils in den Zeiten, in denen sie keine Schule haben. Sie soll Raum bieten fuer Kreativitaet, Phantasie und Ideen. Mit gezielten Anregungen und wenig Material steht den Kindern eigenlich alles offen. Sie haben die Moeglichkeit, zu spielen, basteln, Geschichten zu erfinden, zu zeichnen – das Zentrale ist, dass zwar ein Input da ist (totale Freiheit = Ueberforderung), die Ideen und Phantasien der Kinder aber kaum eingeschraenkt werden. Dazu kommt, dass die Antiescuela alters-durchmischt ist und die Kinder dadurch auch in ihrer Sozialkompetenz gefoerdert werden. Dies ermoeglicht z.B. dem 5 jaehrigen Efraim mit dem 11 jaehrigen Edwin mit den selbst-gebastelten Puppen ein Theater aufzufuehren und beide lernen etwas dabei und haben ihren Spass daran.


Struktur – Wir sind der Meinung, dass Platz fuer Kreativitaet eine gewisse Struktur nicht ausschliesst. Ausserdem finden wir gewisse Rituale und Gliederungen wichtig, um den Kindern etwas zu vermitteln, auf das sie sich verlassen koennen. Zu viel Freiheit kann Unsicherheit ausloesen und so finden wir eine Struktur noetig, um etwas zu geben, woran man sich festhalten kann.

Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass die Kinder am Anfangs- und Schlussritual auch nach drei Monaten noch ihre Freude hatten und danach fragten, wollten wir es mal auslassen.

An den Tagen Mo, Di, Do und Fr stand jeweils die Tuere des centros offen. Wir waren spaetestens ab zwei Uhr bis mindestens um fuenf Uhr anwesend. Da von den Kindern im Dorf nicht zu verlangen ist, dass alle Punkt zwei dastehen, haben wir am Anfang immer eine etwa ¾ stuendige Knautschzone einberechnet. In dieser Zeit haben wir spielend gewartet, bis „alle“ da waren. Das anschliessende „que tál?“ gab den Kindern die Moeglichkeit ihren Gemuetszustand uns und ihren Mitspielenden anhand eines Barometers kundzutun. Die Pause diente dazu, gemeinsam im Kreis etwas Gesundes zu essen und einige ruhige Minuten zu geniessen. Zweimal woechentlich haben wir mit den Kindern nach der Pause die Zaehne geputzt. Ebenfalls haben wir einmal die Woche Brot gebacken, wobei wir den Teig vorbereitet haben und die Kinder die Masse anschliessend formten haben. Das fertige Broetli konnten sie dann in der Pause essen.

Da die Anzahl der Kinder von Tag zu Tag variiert – es kamen jeweils zwischen 6 und fast 40 – und es bis zum Schluss auch immer wieder „Neue“ gab oder solche, die ploetzlich nicht mehr kamen, ist es wichtig, nicht zu lange Projekte zu planen. Schon die Sache mit dem Puppen basteln war zeitweise etwas kompliziert, da immer weider andere Kinder kamen.


Die Woche haben wir wie folgt unterteilt:

Jeweils am Montag bastelten wir Spiele oder Dinge fuer die comunidad, die da auch bleiben wie z.B. eine Kuegelibahn, Puppen, Zeichnungsmappen oder Zahnbecher.

Dienstag war Sporttag. So gab es z.B. eine Olympiade, ein Baseballturnier oder wir machten eine Excursion mit Schatzsuche.

Am Donnerstag wurde gebastelt oder gezeichnet. Es entstanden Papierflieger, Weihnachtsschmuck oder z.B. Zeichnungen fuer die Zeichnungsmappe.

Freitags stand jeweils die Tuer zur Bibliothek offen und den Kindern wurden Geschichten vorgelesen.


Bibliothek – Im Wissen, dass die Schueler der Kantonsschule Wattwil fuer eine Bibliothek in Huancarani in der Schweiz Geld gesammelt haben und beim Anblick der noch leeren Raeume bei unserer Ankunft im centro, machten wir uns schon bald ans Projekt Bibliothek. Diese Arbeit machte von Anfang an grossen Spass, wenn unsere Geduld auch immer wieder auf die Probe gestellt wurde. „Mañana“ („Morgen“, oder eben irgendwann dann einmal) war ein vielgebrauchtes Wort, als es darum ging, Fenster und Gitterstaebe als Vorsichtsmassnahmen einzubauen. Nun, als es dann endlich soweit war, kauften wir Gesteller, naehten Vorhaenge und ueberzogen Matrazen. Schon nach wenigen Wochen sah der einst tote Raum recht belebt aus. Jetzt gings ans Buecher einkaufen auf der „cancha“ (Grosser Markt in Cochabamba).

Der Freitag, an dem die Kinder zum 1.Mal die Bibliothek betraten, wird uns wohl immer in Erinnerung bleiben. Die staunenden Augen, mit andaechtigen Schritten zum Regal, vorsichtig ein Buch heraus-genommen und ab auf die Matraze. Einigen Kindern mussten wir sogar zeigen, wie man ein Buch oeffnet und schliesst. Mit den Kleinsten verbesserte Marc sein Spanisch, indem sie ihm alle Bilder auf jeder Seite erklaerten.

Da immer nur etwa 10 auf einmal in die Bibliothek konnten, verbrachte eine andere Gruppe ihre Zeit damit, indem sie in der „Erzaehlhoehle“ einer Geschichte lauschten und danach etwas dazu bastelten. So verging die Zeit im Nu und nicht nur wir genossen die Bibliotheks-Freitage sehr, sondern auch die Kinder. Fuer uns war von Anfang an klar, dass die Bibliothek etwas Spezielles und Geheimnisvolles bleiben soll, deshalb finden wir es wichtig, dass die Bibliothek nur einmal die Woche geoeffnet wird, damit ihre Besucher den Tag auch in Zukunft mit Spannung erwarten und sich darauf freuen werden.

In den letzten Tagen haben wir die Buecher noch alle geordnet und in verschiedene Sektoren unterteilt. So unterscheiden sich nun die Kinder von den Jugend und den Erwachsenenbuechern, sowie Erzaehlungen von Sach-buechern. Ausserdem gibts eine Abteilung mit Malbuechern und Puzzles fuer die weniger Lesewilligen. Auch, aber nicht nur dieser Ordnung wegen, finden wir es wichtig, dass die Kinder in der Bibliothek begleitet werden.

Der Anfang ist nun also gemacht, was unserer Meinung nach noch fehlt, sind mehr qualitativ gute und auch schoene Kinderbuecher, die sich in Bolivien so schwierig finden lassen. Bis jetzt haben wir vor allem auf dem Secondhand-Markt eingekauft. Dieser ist unserer Meinung nach aber bald ausgeschoepft und wir finden es wichtig, dass mit dem vielen Geld, das gemaess Carlos noch da ist, auch gute, wenn auch teure Buecher (gebunden) in den Buchlaeden gekauft werden.

Wir sind gespannt, wie sich die Bibliothek in Huancarani weiterentwickelt. Hoffentlich wird es immer wieder Kinder und Erwachsene geben, die ebensoviel Freude daran haben, wie wir sie hatten...


Persoenliche Eindruecke – Ja, die Zeit mit den Kindern in Huancarani ist vergangen wie im Fluge. Wir sind gekommen mit dem Kopf voller Ideen, einige davon konnten wir vergessen, andere etwas anpassen, viele umsetzen und wieder andere nehmen wir wieder mit, haben sie aber in einem Ordner dort deponiert. Die Kinder haben uns in vielen Bereichen gepraegt und beeindruckt. Wie sie zum Beispiel innerhalb der Familie zusammenhalten und viel Verantwortung fuer ihre Geschwister uebernehmen. Wie sie an kleinen Dingen grosse Freude haben. Wie Probleme oft mit der Faust „geloest“ werden und das Gesetz des Staerkeren herrscht. Wie sie ueberfordert sind, wenn ihnen eine recht offene Aufgabe gestellt wird, wie sie konkrete Beispiele hoeren wollen und diese dann 1:1 umsetzen...

Wir lernten auch, gut aufs Material aufzupassen, sind doch zu Anfang einige Dinge auf wundersame Weise verschwunden. Irgendwie aber auch verstaendlich, wenn die Kinder in der Schule den Auftrag bekommen, ein Kartonhaus zu bauen, zuhause aber weder Papier, Stifte, Schere noch Leim dazu haben. Und natuerlich gibt das Haus dann Noten.

Fuer die Pausen besorgten wir immer eine Frucht fuer alle. Diese Momente, essend und schmatzend, waren jeweils mit Abstand die ruhigsten des Nachmittags. Die Kinder schaetzten diese Pause sehr und nie haben wir von jemandem gehoert, dass er/sie etwas nicht gerne haette. Wir finden es wichtig, wenn auch in diesem Bereich weiter das Geld (es braucht so wenig!) zur Verfuegung stehen wuerde, um den Kindern wenigstens eine Frucht pro Tag zu ermoeg-lichen. Ernaehren sie sich sonst doch vor allem von Pollo und Suessigkeiten.

Wir haben es sehr geschaetzt, in Huancarani selber zu leben. So hatten wir auch neben den Nachmittagen Kontakt mit den Kindern oder deren Eltern. Und auch dabei gibt es viel zu beobachten.

Wir wuenschen uns, dass dieses Projekt noch ein langes „Leben“ vor sich hat. Dass die Kinder kontinuierlich jemanden haben werden, der ihnen nachmittags die Tuer oeffnet und ihnen Raum bietet fuer Kreativitaet, Phantasie und Entwicklung des Selbstbewusstseins. Dass auch die Idee bald umgesetzt wird, fuer die etwas Aelteren ein Berufslehrangebot zu realisieren. Es sind naemlich immer Aeltere da, die wohl gerne etwas zu tun haetten und sonst irgendwann wahrscheinlich in die Stadt abwandern werden.